24.10.2022

Zwischen Krippe und Kreuz

Sehen Sie den Ort dort drüben? Das ist Bethlehem! Friedlich liegt die kleine Stadt auf den Hügeln Judäas. Doch der Schein trügt. Er hat meist getrogen. Die Idylle war hier selten zu Haus. Die Wüste ist nah. Und das Elend. Und der Krieg. Und die Verzweiflung.

Stellen Sie sich vor, wir sind Hirten, hier vor den Toren Bethlehems. Vor den Toren der besseren Gesellschaft. Leben ein Leben zwischen Widerstand und Ergebung. Ohne Erwartungen ans Leben, an Gott.

Als plötzlich der Himmel aufreißt. Und eine Lichtgestalt erscheint, ein Engel: „Ich habe eine gute Nachricht für euch, ein Evangelium! Gott ist zur Welt gekommen! Der Heiland ist geboren! Für euch! Er kann alles zurecht bringen! Geht ihn suchen! Er ist – ein Baby!“

Und der Himmel ist auf einmal Musik pur. Und Licht und Leben. Und Farbe und Fröhlichkeit.

Dann tastet unser Blick den Horizont ab. Und findet Jerusalem. Und wir sehen wie in einem Tagtraum, was hier 30 Jahre später geschehen wird: Das Unausdenkliche, das Unaussprechliche. Drei Kreuze auf einem Hügel. Und in der  Mitte er, der kleine Junge aus der Krippe. Geschlagen, geschunden, geächtet. Darunter seine feixenden Zeitgenossen. Und irgendwie auch wir. Und wir hören, was er mit matter Stimme aus dem sterbenden Körper presst: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Und wir erschrecken und fragen: Warum?

Wegen unserer Schuld, unserer Selbstherrlichkeit und Selbstgerechtigkeit, unserer Gottesferne und Gottverlassenheit. Gott straft nicht uns, sondern seinen Sohn und damit sich selbst. Er ist der Gott der Gnade.

Das Kind in der Krippe ist der Mann am Kreuz. Der Mann am Kreuz ist der Auferstandene. Gott in unserer Haut. Gott in unserer Verzweiflung und Verlassenheit. Gott in unseren Ängsten und Fragen. Gott in der Mitte einer richtungslos taumelnden Welt. Aber vor allem der, der Tod und Teufel und Ungerechtigkeit überwunden, ja besiegt hat. Und wir empfangen Trost und Hoffnung, wie sie wohl Jochen Klepper empfangen hat, als er diesen Weihnachtstext zu Papier brachte. In keiner Nacht sind wir allein. Und nichts kann uns trennen von Gottes liebevoller Zuwendung. Nicht mal wir selber. Und aus dem Kyrieleision wird ein Hosianna: Gelobt sei Gott!

Jürgen Werth

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